Neurodivergenz verstehen: Formen, Merkmale & kleine Selbsttests
Der Begriff Neurodivergenz beschreibt Unterschiede in der Art, wie das Gehirn Informationen verarbeitet, Reize einordnet und Gefühle reguliert. Diese Unterschiede sind nicht krankhaft – sondern Ausdruck neurologischer Vielfalt.
In diesem Blogpost stelle ich dir fünf häufige neurodivergente Varianten vor – mit einer kurzen Erklärung der neurologischen Grundlagen und jeweils einem kleinen Selbsttest zur ersten Orientierung.
Ich darf sein, wie ich bin, um zu werden, was ich sein kann
(Ottilia Maag)
1. ADHS / ADS – Das Gehirn mit dem Turbo und dem Bremser zugleich
Was ist das neurologisch?
ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) ist eine neurobiologische Variante, bei der bestimmte Botenstoffe (v. a. Dopamin und Noradrenalin) im Gehirn nicht ausreichend oder verzögert wirken. Das betrifft vor allem das Frontalhirn – zuständig für Planung, Impulskontrolle und Aufmerksamkeit.
Typische Merkmale:
- Konzentrationsprobleme, leichtes Abschweifen
- Impulsives Verhalten oder überstarke Reaktionen
- innere Unruhe oder ständiger Bewegungsdrang
- kreative Ideen – aber oft ohne Struktur
- extreme Fokussierung auf bestimmte Themen (Hyperfokus)
Mini-Selbsttest:
Springen deine Gedanken ständig hin und her – außer bei Lieblingsthemen?
Bist du oft ungeduldig oder unterbrichst andere im Gespräch?
Hast du das Gefühl, ständig gegen Chaos im Kopf anzukämpfen?
Bist du entweder total abgelenkt oder extrem vertieft – und kaum dazwischen?
2. Autismus-Spektrum – Die Welt in anderen Mustern sehen
Was ist das neurologisch?
Autismus ist eine neurobiologische Entwicklungsvariante, bei der das Gehirn Informationen anders filtert und vernetzt. Es werden soziale Reize, Sprache, sensorische Eindrücke und Routinen anders verarbeitet – oft intensiver, direkter, strukturierter.
Typische Merkmale:
- intensive Spezialinteressen
- Schwierigkeiten mit Smalltalk oder unausgesprochener Kommunikation
- sensorische Empfindlichkeiten (Geräusche, Berührungen, Licht)
- Routinen geben Sicherheit
- „Masking“ – das Verbergen eigener Verhaltensweisen, um dazuzugehören
Mini-Selbsttest:
Fühlst du dich in sozialen Gruppen oft wie ein „Beobachter“ statt Mitspieler?
Erschöpft dich das Einhalten gesellschaftlicher Erwartungen stark?
Liebst du klare Strukturen, Regeln und Wiederholungen?
3. Hochsensibilität – Wenn das Nervensystem ohne Filter arbeitet
Was ist das neurologisch?
Hochsensibilität ist (noch) keine offizielle Diagnose, wird aber als verstärkte Aktivität des Nervensystems und der Amygdala (Gefühlszentrum) verstanden. Reize, Gefühle und Stimmungen anderer Menschen werden tiefer und schneller verarbeitet.
Typische Merkmale:
- Überwältigung durch Licht, Lärm, Menschenmengen
- tiefe emotionale Reaktionen (positive wie negative)
- starke Empathie, Mitfühlen bis zur Erschöpfung
- intensives Nachdenken – oft mit Selbstzweifeln
- starkes Bedürfnis nach Rückzug und Ruhe
Mini-Selbsttest:
Reagierst du stärker als andere auf Lärm oder Gerüche?
Nimmst du die Gefühle anderer sehr schnell wahr?
Wirst du von schnellen Entscheidungen oder Multitasking gestresst?
4. Lernunterschiede – Intelligenz sieht nicht immer schulisch aus
Was ist das neurologisch?
Dyslexie, Dyskalkulie & Co. basieren auf abweichenden Mustern der Informationsverarbeitung im Gehirn. Oft sind Verbindungen zwischen Sprach-, Lese- oder Rechenzentren weniger effizient. Dabei ist die allgemeine Intelligenz meist völlig durchschnittlich oder sogar überdurchschnittlich.
Typische Merkmale:
- langsames oder stockendes Lesen
- Probleme mit Rechtschreibung oder Mathe, trotz Übung
- „Verspringen“ in Zahlen oder Buchstaben
- kreative Problemlösung jenseits klassischer Methoden
- inhaltlich schlau – aber formal auffällig
Mini-Selbsttest:
Hattest du in der Schule das Gefühl, schlau zu sein, aber „nicht gut“ zu passen?
Liest oder schreibst du langsamer als andere, obwohl du viel verstehst?
Arbeitest du lieber mit Bildern, Geschichten oder „Tricks“ als mit Regeln?
5. Tourette-Syndrom – Wenn das Gehirn kleine Kurzschlüsse sendet
Was ist das neurologisch?
Beim Tourette-Syndrom ist die Verarbeitung von Bewegungsimpulsen im Gehirn verändert, besonders im Bereich der Basalganglien. Es entstehen motorische oder vokale Tics, also unwillkürliche, nicht kontrollierbare Handlungen oder Laute. Die Dopaminregulation spielt auch hier eine Rolle.
Typische Merkmale:
- plötzliche Bewegungen oder Laute, oft ohne äußeren Reiz
- Tics verstärken sich bei Stress, Müdigkeit oder Emotionen
- starker innerer Druck vor dem Tic (ähnlich wie Niesen)
- oft Scham oder ständiges Unterdrücken im Alltag
Mini-Selbsttest:
Hast du unwillkürliche Bewegungen oder Geräusche, die du nur schwer stoppen kannst?
Kennst du das Gefühl eines inneren Drangs, bevor ein bestimmter Impuls kommt?
Bist du besonders angespannt in Situationen, in denen du „nicht auffallen“ darfst?
Was all diese Formen verbindet: Sie sind kein Fehler.
Neurodivergenz ist keine Schwäche – sie ist ein Ausdruck natürlicher Vielfalt im Menschsein. Mit der richtigen Unterstützung können aus „Herausforderungen“ ganz persönliche Wege und Stärken werden.
Psychotherapie kann helfen:
- die eigene Neurodivergenz besser zu verstehen
- Ressourcen zu entdecken und Alltag neu zu gestalten
- Masking und Erschöpfung zu reduzieren
- Selbstwert, Abgrenzung und Reizschutz aufzubauen
Fühlst du dich hier wieder? Ich begleite dich gerne. In meiner Praxis ist Platz für all deine Facetten – neurodivergent, sensibel, komplex oder einfach du. Nimm gerne Kontakt auf.
Neurodiversity is the art of being beautifully different in a world that seeks conformity
(Unknown)